Coranica
Bis heute beruft sich die Textgeschichte des Korans überwiegend auf die arabo-islamische Tradition, vor allem auf Werke zur Überlieferung, Lesung und Schreibung des Korantextes sowie auf Korankommentare. Die Edition und das Studium materieller Zeugnisse, die zum Verständnis der historischen Entwicklung der Kanonisierung des Textes beitragen sollen, bilden den ersten Teil des Projekts Coranica (Manuscripta et testimonia coranica). Ein zweiter Teil (Glossarium coranicum) legt in Dokumentation und Analyse den Schwerpunkt auf die Sprachen und Religionen, die zur Zeit Muhammads praktiziert worden sind, sowie auf deren Einfluss auf den koranischen Wortschatz.
Der Beitrag Coranicas zur Textgeschichte des Korans ist in chronologisch ausgelegten, materiellen und sachlichen Zeugnissen begründet und weniger in den Grundlagen der arabo-islamischen Tradition. In seiner empirischen und dokumentarischen Herangehensweise ist das Projekt darin bestrebt, die neuesten Erkenntnisse miteinzubeziehen. Dank der Zulassung archäologischer Grabungen und Forschungen auf der arabischen Halbinsel ist eine große Anzahl von epigraphischen und archäologischen Funden im Jemen und in Saudi-Arabien zu verzeichnen (hierzu die Ausstellung Roads of Arabia im Louvre, Paris 2010 und im Pergamonmuseum, Berlin 2012). Einige der gefundenen Texte, die sowohl zeitlich als auch geographisch dem Koran besonders nahe stehen, bereichern unsere Kenntnisse der vorislamischen Religionen Arabiens. Die Archäologie gewährt nicht nur einen präzisen Einblick in die schwere ökologische und demographische Krise und deren politische und wirtschaftliche Konsequenzen, wie sie die arabische Halbinsel in der zweiten Hälfte des 6. Jhdts. erfuhr, sie ermöglicht auch eine genaue Vorstellung von der Ausbreitung des Christentums im östlichen Arabien. Coranica möchte eine Kooperation der Wissenschaften im Bereich der Antike und des Islam ermöglichen. Das Projekt beschäftigt Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen aus Deutschland, Frankreich und anderen Ländern wie England, Österreich oder Italien. Das Projekt Coranica existiert seit 2011 und steht in Frankreich unter der Leitung von Christian Robin und François Déroche (AIBL, Paris) und in Deutschland von Michael Marx und Angelika Neuwirth (BBAW, Berlin).